Projekt zu Diversität in der Deutschen Bibliothek

Im Herbst 2022 hat sich die Deutsche Bibliothek mit der Relevanz von Diversität und deren Sichtbarkeit im Bestand ihres literarischen Angebotes befasst. In diesem Zusammenhang wurden von Kinderbüchern über Sachbücher zu Romanen neue Titel bestellt, die normkritische Perspektiven innerhalb der deutschsprachigen Literatur vertreten. Die Praktikantin Eva erzählt in diesem Blogbeitrag über die Hintergründe des Projekts und stellt drei Werke vor, die Schlaglichter auf verschiedene gesellschaftliche Momente werfen.

Literatur schafft Gedankenräume und öffnet Grenzen. Bibliotheken sind in einer einzigartigen Position: sie haben den Anspruch, diese offenen Gedankenräume zugänglich zu machen. Ein möglichst pluralistisches, vielperspektivisches Angebot erweitert nicht nur Wissens- und Empathiehorizonte der Lesenden, sondern kann auch Schutzräume für Menschen anbieten, die sich, sei es aufgrund ihres Geschlechts, ihrer Hautfarbe oder ihrer sexuellen Orientierung, in marginalisierten Positionen befinden. Dafür ist es nicht nur wichtig, entsprechende Literatur anzubieten, sondern auch, diese sichtbar zu machen (Hauck und Linneberg 2022: S.1-13).

In den nächsten Abschnitten werden einige Autor*innen und Werke vorgestellt, die einen normkritischen Blick auf deutsche Geschichte, Kultur und Literatur bieten:

1) Charlotte Wolff (mit Christa Wolf): „Ja, unsere Kreise berühren sich. Briefe“

2) Jayrôme C. Robinet: „Mein Weg von einer weissen Frau zu einem jungen Mann mit Migrationshintergrund“

3) Emilia Roig: „Why We Matter. Das Ende der Unterdrückung”

Aufgrund der inhaltlichen Relevanz für die Beiträge gibt es vorab einige Begriffserklärungen:

Rassismus:
1. (meist ideologischen Charakter tragende, zur Rechtfertigung von Rassendiskriminierung, Kolonialismus o. Ä. entwickelte) Lehre, Theorie, nach der Menschen bzw. Bevölkerungsgruppen mit bestimmten biologischen oder ethnisch-kulturellen Merkmalen anderen von Natur aus über- bzw. unterlegen sein sollen
2. dem Rassismus (1) entsprechende (bewusste oder unbewusste) Einstellung, Denk- und Handlungsweise
3. a) dem Rassismus (1) entsprechende institutionelle, gesellschaftliche o. ä. Strukturen, durch die Menschen diskriminiert werden
b) dem Rassismus (1) entsprechende systematische Unterdrückung von Menschen
(Duden)  
Queerfeindlichkeit
Queerfeindlichkeit bezeichnet die Diskriminierung von queeren Menschen. Dies zeigt sich z.B. durch Ablehnung, Wut, Intoleranz, Vorurteile, Unbehagen oder körperliche bzw. psychische Gewalt gegenüber queeren Menschen. 
(Queer lexikon)  
Ableismus
Abwertung, Diskriminierung, Marginalisierung von Menschen mit Behinderung oder chronisch Kranken aufgrund ihrer Fähigkeiten
(Duden)  
Heteronormativität
In einer heteronormativen Gesellschaft wird von allen Menschen erwartet, dass sie cisgeschlechtlich und heterosexuell sind. Es wird also davon ausgegangen, dass jede Person nur eins von zwei Geschlechtern hat, nämlich entweder männlich oder weiblich, und dass dieses Geschlecht schon bei der Geburt an den Genitalien abgelesen werden kann. Außerdem wird davon ausgegangen, dass diese Geschlechter sich grundlegend voneinander unterscheiden und sich sexuell und romantisch aufeinander beziehen. (Cis) Frauen sollen sich also nur zu (cis) Männern hingezogen fühlen und umgekehrt. Abweichungen davon, zum Beispiel queere und polyamouröse Beziehungen sowie trans Menschen, werden unsichtbar gemacht und/oder diskriminiert.
(Queer lexikon)

Literaturverzeichnis:

Und nun zu den Beiträgen:

1) Blick in die Vergangenheit: Charlotte Wolff und Christa Wolf. Ja, unsere Kreise berühren sich. Briefe

Die jüdische Ärztin, Psychologin und Schriftstellerin Charlotte Wolff (1897-1986) scheint in Deutschland nahezu in Vergessenheit geraten zu sein, besonders in literarischen Kreisen. Das mag auch daran liegen, dass sie nach ihrer Flucht aus dem nationalsozialistischen Deutschland 1933 auf Englisch arbeitete und schrieb.

„Sehen Sie, als ich ins Exil (das mir ja großartig bekam) ging – war die deutsche Sprache mir nicht nur verloren – sondern ein Greuel“, schreibt sie fünfzig Jahre später an Christa Wolf (Wolf und Wolff 2018: S.13). Dass die beiden Frauen in Korrespondenz treten, ist dem Zufall geschuldet – sie lesen Werke der jeweils anderen, entdecken einen Gleichklang ineinander, was gesellschaftliche, literarische und persönliche Themen betrifft. Der in dem schmalen Bändchen Ja, unsere Kreise berühren sich festgehaltene Briefwechsel (1983-1986) skizziert ein Stück Zeitgeschichte aus der Perspektive der beiden Frauen. In unmittelbar naher Selbstkundgabe kommt Charlotte Wolff in jener reflektierend-analytischen und doch zutiefst empfindsamen Art zu Wort, die für sie typisch ist. Ihre empathische und menschenliebende Haltung wahrt sie sich trotz der Verfolgungserfahrung durch die Nazis.

„Ich denke oft, (vielleicht hab‘ ich’s dir schon erzählt?) an Elizabeth Sprigge’s biography of Gertrude Stein – diese Bemerkung von Stein zitierte sie – ››Wenn du mit Deinem ganzen Selbst mit andern bist, dann können sie nicht anders als mit Dir sein.‹‹ Ja – das ist es. Ich hab keine Angst vor Dieben oder Einbrechern – deswegen! Und überhaupt – Dennoch bin ich ein richtiger Angstneurotiker. Ich glaube, das ist Angst vor sich selbst – und absoluter Grausamkeit wie Hitlerism oder so –ʺ (Wolf und Wolff 2018: S.59f)

Es gibt zahlreiche Gründe, sich mit Charlotte Wolff und ihrer Geschichte zu befassen. Denn „der ewige Außenseiter und Student“, wie sie sich selbst nennt (Wolf und Wolff 2018: S.68), hatte nicht nur einen bemerkenswerten Lebensweg als Ärztin und offen homosexuell lebende Frau, sie leistete auch mehrfach Pionierarbeit: zunächst in ihren Forschungen über die menschliche Hand, später in Studien über weibliche Homosexualität (1973) und Bisexualität (1977). Sie setzte sich für Frauen und sexuelle Minderheiten ein, hielt Vorträge, schließlich auch wieder in Deutschland. Ihre letzte und bekannteste Arbeit ist die 1986 erschienene Biographie über Magnus Hirschfeld, der 1919-1933 das Institut für Sexualwissenschaft in Berlin leitete.

Literaturverzeichnis:

Andere  Titel zu ähnlichen Themen in der Deutschen Bibliothek:

2) Blick in die Gegenwart: Jayrôme C. Robinet. Mein Weg von einer weissen Frau zu einem jungen Mann mit Migrationshintergrund

In den vergangenen Jahren und Monaten sind Diskussionen um Transsexualität verstärkt in den Medien aufgegriffen worden. Und in Deutschland ist ein neues Selbstbestimmungsgesetz auf dem Weg, das das alte, verfassungswidrige Gesetz von 1980 ersetzen soll (BMFSFJ 2022).

Dadurch soll eine einfachere Änderung des Vornamens und Geschlechtseintrags möglich werden. Was das tatsächlich für die Lebensrealität von Trans*-Personen bedeuten würde, bringt die Lektüre von Jayrôme C. Robinets Autobiographie näher.

„Eigentlich leide ich nicht an geschlechtlicher, sondern an bürokratischer Dysphorie“, kommentiert er die behördlichen Hindernisse, mit denen er in den späten 2010er Jahren in Deutschland konfrontiert ist (Robinet 2019: S.158). In Mein Weg von einer weissen Frau zu einem jungen Mann mit Migrationshintergrund beschreibt er sehr genau, wie unnötig schwierig das Leben für Menschen gemacht wird, die nicht den heteronormativen Erwartungen entsprechen.

Mit 38 beginnt Jayrôme C. Robinet mit der Testosteronbehandlung. Er erfährt das Glück, endlich auch äußerlich zu sich selbst zu werden. Zugleich muss er sich in einem völligen Perspektivenwechsel zurechtfinden – dem der Gesellschaft auf ihn. Die Menschen behandeln ihn als Mann, was mit neuen Privilegien, aber auch neuem Druck einhergeht. Und, was er nicht erwartet hat: mit Alltagsrassismus. So hält eine Teestubenbesitzerin, der zuvor die Ladenscheibe eingeworfen wurde, ihn aufgrund seines neuen Aussehens sofort für verdächtig. „Warum hatte sie den Eindruck, dass ich gefährlich bin? Und warum habe ich versucht, ihr zu zeigen, dass ich kein Randalierer bin? Dass sie keine Angst vor mir zu haben braucht? Vor einem Menschen wie mir, ich trinke doch Kräutertee und interessiere mich für Literatur!“ (Robinet 2019: S.97)

Robinet gelingt das Kunststück, auch belastende Themen mit Humor zu erzählen. Gekonnt beschreibt er die Vielschichtigkeit eines Lebens außerhalb der gesellschaftlichen Normen, und wie diese als Konstrukte demaskiert werden können.

Literaturverzeichnis

Andere Titel zu ähnlichen Themen in der Deutschen Bibliothek:

3) Aufbruch in die Zukunft: Emilia Roig. Why we matter. Das Ende der Unterdrückung

„Wie können wir die Einheit der Menschheit herstellen, ohne die Hinterlassenschaft der Vergangenheit zu verleugnen?“ (Roig 2021: S.339)

Das ist eine der zentralen Fragen, die die Politikwissenschaftlerin Emilia Roig in ihrem Sachbuch Why We Matter. Das Ende der Unterdrückung zu beantworten sucht. Dafür hat sie eine präzise – mit historischen, aktuellen und persönlichen Beispielen aus Deutschland, Frankreich und den USA belegte – Gesellschaftsanalyse geschrieben, die die wichtigsten Bereiche des Lebens abdeckt. Vom Bildungssystem und Medien über das Gesundheitssystem bis hin zur Justiz werden historisch gewachsene Strukturen von Sexismus, Rassismus, Ableismus und Queerfeindlichkeit aufgedeckt, analysiert und erklärt. Auch dass und wie diese Strukturen oft verleugnet werden, aus welchen Gründen, und welche Auswirkungen dies wiederum auf Betroffene hat: „Menschen, die weder gesehen noch gehört werden, denen nicht geglaubt wird, sind vielen Formen von Gewalt ausgesetzt – bis hin zum Mord.“ (Roig 2021: S.13)

Bei der Berichterstattung über rassistisch motivierte Gewalttaten werden die Perspektiven von Betroffenen sowie die gesamtgesellschaftlichen Hintergründe oft ausgeblendet. Roig wiederrum erklärt die komplexen Zusammenhänge von Diskriminierung, Macht und Privilegien in Gesellschaftssystemen, die noch immer vom Kolonialismus profitieren, ohne dabei zu theoretisch zu werden. Dadurch ist das Buch sowohl für ein wissenschaftlich interessiertes Publikum sowie für persönliche Lektüre geeignet.

Auch Lösungen für die aktuellen Probleme werden geschaffen: wenn die Privilegierteren ihre Privilegien und die damit verbundenen Ungerechtigkeiten anzuerkennen und abzugeben lernen, ohne dabei im Abwehrkreis von Verleugnung und Scham stecken zu bleiben, und die von Diskriminierung Betroffenen ihre Verletzungen heilen können, ist eine gesamtgesellschaftliche Annäherung möglich. (Roig 2021: S.340-365)

Mit ob ihrer eigenen Erfahrungen beeindruckendem Optimismus schafft Roig ihren Lesenden also nicht nur ein Instrumentarium zum Erkennen unterdrückender Strukturen, sondern auch eine Basis für Hoffnung auf eine bessere Welt:

„All das Chaos, die Angst und die Trennung, die wir derzeit in der Welt sehen, kann so interpretiert werden, dass etwas zu Ende geht und ein neues Paradigma des Friedens, der Ganzheit, des fair geteilten Wohlstands, der Freiheit und der Liebe beginnt.“ (Roig 2021: S.323)

Literaturverzeichnis

Andere Titel zu ähnlichen Themen in der Deutschen Bibliothek:

Alle Neuanschaffungen im Rahmen des Projekts zu Diversität in der Deutschen Bibliothek:

Ait Si Abbou, Kenza. Meine Freundin Roxy. Roboterzähmen leicht gemacht. München: Tulipan Verlag 2022

Amalle, Warsame Ahmed. Idil und Warsame. Eine Sehnsucht, die nie vergeht – eine Erinnerung, die nie verblasst. Neckenmarkt: novum pro Verlag 2019

Birchler-Hofbauer, Karin und Monika Birchler-Küchlin. Anna und Obur. Eine Mutmachgeschichte für schweigende Kinder. Idstein: Schulz-Kirchner Verlag 2020

Bomy, Charlotte und Lisa Wegener (Hrsg). Surf durch undefiniertes Gelände. Internationale queere Dramatik. Berlin: Neofelis Verlag 2022

Brokowski-Shekete, Florence. Raus aus den Schubladen! Meine Gespräche mit Schwarzen Deutschen. Berlin: Orlanda Verlag 2022

Dardan, Asal: Betrachtungen einer Barbarin. Hamburg: Hoffmann und Campe 2021

Eggers, Maureen Maisha, Grada Kilomba, Peggy Piesche und Susan Arndt (Hrsg). Mythen, Masken, Subjekte. Kritische Weißseinsforschung in Deutschland. Münster: Unrast Verlag 2020

Emcke, Carolin. Gegen den Hass. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch 2020

Emcke, Carolin. Journal. Tagebuch in Zeiten der Pandemie. Frankfurt am Main: S. Fischer 2021

Emcke, Carolin. Für den Zweifel. Gespräche mit Thomas Strässle. Zürich: Kampa Verlag 2022

Ewert, Felicia. Trans. Frau. Sein. Aspekte geschlechtlicher Marginalisierung. Münster: Edition Assemblage 2021

Faroqui, Anna. Andersdenkerinnen. Annäherungen an Helene Nathan, Anna Seghers und Hannah Arendt. Berlin-Brandenburg: be.bra verlag 2022

Fessel, Karen-Susan. Bilder von ihr. Berlin: Querverlag 2016

Fiske, Anna. Alle gehen in die Schule. München: Carl Hanser 2021

Gammerl, Benno. Anders Fühlen. Schwules und lesbisches Leben in der Bundesrepublik. Eine Emotionsgeschichte.  München: Carl Hanser Verlag 2021

Gohring, Dian. Ching Chang Stop. Heidelberg: Carl-Auer Verlag 2022

Haruna-Oelker, Hadija: Die Schönheit der Differenz. Miteinander anders denken. München. btb 2022

Hasters, Alice. Was weisse Menschen nicht über Rassismus hören wollen, aber wissen sollten. München: hanserblau 2021

Herrn, Rainer. Der Liebe und dem Leid. Das Institut für Sexualwissenschaft 1919-1933. Berlin: Suhrkamp 2022

Kelly, Natasha A. (Hrsg). I Am Milli. Ikonografien des Schwarzen Feminismus. Berlin: Orlanda Verlag 2022

Kohm, Toni. Sam besucht Oma und Omi in Großbritannien. Hamburg: Marta Press 2019

Kuhnke, Jasmina. Schwarzes Herz. Hamburg: Rowohlt Hundert Augen 2021

Linder, Cornelia und Verena Tschemernjak. Erbsenklein, Melonengroß. Das gendersensible Vorlesebuch rund um Familie und Geburt. Wien: Achse Verlag 2021

Ofner, Agnes. Nicht so das Bilderbuchmädchen. Wien: Jungbrunnen 2020

Ogette, Tupoka. Und jetzt du. Rassismuskritisch leben. München: Penguin Verlag 2022

Otoo, Sharon Dodua. Herr Gröttrup setzt sich hin. Frankfurt am Main: S.Fischer 2022

Özkan-Rashed, Zahide. „Wir bleiben nur noch bis…“. Aufwachsen in zwei Kulturen. Berlin: Orlanda Verlag 2022

Pickert, Nils. Prinzessinnenjungs. Wie wir unsere Söhne aus der Geschlechterfalle befreien. Basel: Beltz 2020

Robinet, Jayrôme C. Mein Weg von einer weissen Frau zu einem jungen Mann mit Migrationshintergrund. München: Hanser Berlin 2019

Roig, Emilia. Why We Matter. Das Ende der Unterdrückung. Berlin: Aufbau 2021

Schreiber, Daniel. Allein. München: Hanser Berlin 2022

Schreiber-Wicke, Edith und Carola Holland. Zwei Papas für Tango. Stuttgart: Thienemann-Esslinger Verlag 2021

Stef und Sven Hensel. Fantastische Queerwesen und wie sie sich finden. Poetry Slam goes queer. Berlin: Satyr Verlag 2021

Strubel, Antje Rávik: Es hört nie auf, dass man etwas sagen muss. Essays. Frankfurt am Main: S.Fischer 2022

Thesing, Julius. You don’t look gay. Eine Auseinandersetzung mit homophober Diskriminierung. Münster: BOHEM Press 2021

Tuckermann, Anja und Tine Schulz. Alle da! Unser kunterbuntes Leben. Leipzig: Klett Kinderbuch 2020

Vöckler, Maria. Blau mit ganz viel Glitzer. Das Leben mit meinem Trans*Kind. Berlin: Querverlag 2021

Weber, Jessica. Meine Vulva, das Einhorn. Mädchen entdecken ihren Körper. Berlin: Orlanda 2022

Wenzel, Olivia. 1000 Serpentinen Angst. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch 2022

Wolf, Christa und Charlotte Wolff. Ja, unsere Kreise berühren sich. Briefe. Frankfurt am Main:Suhrkamp 2018