Blick in die Vergangenheit: Charlotte Wolff und Christa Wolf. Ja, unsere Kreise berühren sich. Briefe
Im zweiten Teil der Reihe von Texten zum Thema Diversität veröffentlichen wir heute Eva Kraushaars Beitrag über Charlotte Wolff und Christa Wolf. Am Ende des Beitrags finden sie weitere Buchempfehlungen zum Thema, die in der Deutschen Bibliothek ausgeliehen werden können.
Die jüdische Ärztin, Psychologin und Schriftstellerin Charlotte Wolff (1897-1986) scheint in Deutschland nahezu in Vergessenheit geraten zu sein, besonders in literaturwissenschaftlichen Kreisen. Das mag auch daran liegen, dass sie nach ihrer Flucht aus dem nationalsozialistischen Deutschland 1933 auf Englisch arbeitete und schrieb.
„Sehen Sie, als ich ins Exil (das mir ja großartig bekam) ging – war die deutsche Sprache mir nicht nur verloren – sondern ein Greuel“, schreibt sie fünfzig Jahre später an Christa Wolf (Wolf und Wolff 2018: S.13). Dass die beiden Frauen in Korrespondenz treten, ist dem Zufall geschuldet – sie lesen Werke der jeweils anderen, entdecken einen Gleichklang ineinander, was gesellschaftliche, literarische und persönliche Themen betrifft. Der in dem schmalen Bändchen Ja, unsere Kreise berühren sich festgehaltene Briefwechsel (1983-1986) skizziert ein Stück Zeitgeschichte aus der Perspektive der beiden Frauen. In unmittelbar naher Selbstkundgabe kommt Charlotte Wolff in jener reflektierend-analytischen und doch zutiefst empfindsamen Art zu Wort, die für sie typisch ist. Ihre empathische und menschenliebende Haltung wahrt sie sich trotz der Verfolgungserfahrung durch die Nazis.
„Ich denke oft, (vielleicht hab‘ ich’s dir schon erzählt?) an Elizabeth Sprigge’s biography of Gertrude Stein – diese Bemerkung von Stein zitierte sie – ››Wenn du mit Deinem ganzen Selbst mit andern bist, dann können sie nicht anders als mit Dir sein.‹‹ Ja – das ist es. Ich hab keine Angst vor Dieben oder Einbrechern – deswegen! Und überhaupt – Dennoch bin ich ein richtiger Angstneurotiker. Ich glaube, das ist Angst vor sich selbst – und absoluter Grausamkeit wie Hitlerism oder so –ʺ (Wolf und Wolff 2018: S.59f)
Es gibt zahlreiche Gründe, sich mit Charlotte Wolff und ihrer Geschichte zu befassen. Denn „der ewige Außenseiter und Student“, wie sie sich selbst nennt (Wolf und Wolff 2018: S.68), hatte nicht nur einen bemerkenswerten Lebensweg als Ärztin und offen homosexuell lebende Frau, sie leistete auch mehrfach Pionierarbeit: zunächst in ihren Forschungen über die menschliche Hand, später in Studien über weibliche Homosexualität (1973) und Bisexualität (1977). Sie setzte sich für Frauen und sexuelle Minderheiten ein, hielt Vorträge, schließlich auch wieder in Deutschland. Ihre letzte und bekannteste Arbeit ist die 1986 erschienene Biographie über Magnus Hirschfeld, der 1919-1933 das Institut für Sexualwissenschaft in Berlin leitete.
Literaturverzeichnis:
Wall, Renate. Verbrannt, verboten, vergessen: kleines Lexikon deutschsprachiger Schriftstellerinnen 1933 bis 1945. Pahl-Rugenstein 1988
Wolf, Christa und Charlotte Wolff. Ja, unsere Kreise berühren sich. Briefe. Suhrkamp, 2. Auflage 2018
Wolff, Charlotte. Psychologie der lesbischen Liebe: eine empirische Studie der weiblichen Homosexualität. Rowohlt 1973
Online-Quellen:
„Charlotte Wolff.“ The Shalvi/Hyman Encyclopedia of Jewish Women. (Letzter Zugriff am 03.10.2022 11.44 Uhr)
https://jwa.org/encyclopedia/article/wolff-charlotte
Andere Titel zu ähnlichen Themen in der Deutschen Bibliothek:
Emcke, Carolin. Gegen den Hass. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch 2020
Faroqui, Anna. Andersdenkerinnen. Annäherungen an Helene Nathan, Anna Seghers und Hannah Arendt. Berlin-Brandenburg: be.bra verlag 2022
Fessel, Karen-Susan. Bilder von ihr. Berlin: Querverlag 2016
Gammerl, Benno. Anders Fühlen. Schwules und lesbisches Leben in der Bundesrepublik. Eine Emotionsgeschichte. München: Carl Hanser Verlag 2021
Herrn, Rainer. Der Liebe und dem Leid. Das Institut für Sexualwissenschaft 1919-1933. Berlin: Suhrkamp 2022
Marti, Madeleine und Marianne Ulmi (Hrsg). Sappho küsst Europa: Geschichten von Lesben aus 20 Ländern. Berlin: Querverlag 1997
Strubel, Antje Rávik: Es hört nie auf, dass man etwas sagen muss. Essays. Frankfurt am Main: S.Fischer 2022
Strubel, Antje Rávic. Offene Blende. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 2003
Wall, Renate. Verbrannt, verboten, vergessen: kleines Lexikon deutschsprachiger Schriftstellerinnen 1933 bis 1945. Köln: Pahl-Rugenstein 1988